zurück zur Artikelseite Martin Krauss
zurück zum archiv des Kulturvereins

 

Theater und Literatur verdeutlichten Schickanen und Abschiebung
Pogromgedenken gestaltet von KJPs und Autor Johannes Winter

Auch im 71-sten Jahr nach den Novemberpogromen der Nazis gedachten in Lauterbach zahlreiche Menschen der Vorfälle, die in Lauterbach am 10. November 1938 in der Niederbrennung der „Neuen Synagoge“ gipfelten. Das Veranstalterbündnis aus der Stadt Lauterbach, der evangelischen und der katholischen Kirche, dem Kulturverein, den Naturfreunden und dem Förderverein für die Geschichte der Juden im Vogelsberg hatte die Veranstaltung vorbereitet, im wesentlichen gestaltet wurde sie von Jugendlichen aus den Kinder- und Jugendparlamenten der Stadt Lauterbach und des Vogelsbergkreises.
Zur Einstimmung für die vielen Besucher am Platz der Synagoge umrahmte Vladimir Pletner das Geschehen mit einfühlsam vorgetragener Musik auf der Violine. Die Ansprache hielt, wie bereits mehrfach zu diesem Anlass, Bürgermeister Rainer-Hans Vollmöller.



Dieser bedankte sich bei Vladimir Pletner von der städtischen Musikschule und wies darauf hin, dass eben an dieser Stelle vor wenigen Tagen Stolpersteine verlegt worden waren, die an Rosa, Max Moses und Arnold Stern erinnerten. Max Moses Stern war der geachtete Lehrer der jüdischen Gemeinde Lauterbachs und hatte mit seiner Familie in der Synagoge gewohnt, mit Rosa und Arnold Stern wurde er deportiert und ermordet. Mit Prof. Naftali Stern war ein Nachkomme des Lehrers bei der Verlegung der Steine zugegen gewesen, Vollmöller berichtete, dies sei immerhin ein kleiner Trost für den ehemals Lauterbacher Juden gewesen und leitete daraus eine Verpflichtung für die Zukunft ab. „In diesem Sinne wollen wir das Gedenken an dieser Stelle und im Rahmen der Aktion Stolpersteine weiterhin pflegen.“ Zudem dankte der Bürgermeister den Jugendlichen für ihr Engagement bei der Veranstaltung.



Was die Jugendlichen, die von Stadtjugendpfleger Andreas Goldberg kompetent betreut wurden, selbstständig zum Thema erarbeitet hatten und vortrugen, geriet ihnen gleichermassen erschreckend und bewegend. Sie hatten sich einen Aspekt aus der Ereigniskette der Judenverfolgung im „Dritten Reich“ vorgenommen, der deutlich später kam als das Novemberpogrom, der aber besonders geeignet war, die Brutalität des Systems und die Folgen für die Opfer zu verdeutlichen: den „Abschiebebefehl“ aus Darmstadt aus dem Jahre 1943 der Geheimen Staatspolizei.
Manch ein Besucher zuckte zusammen, als plötzlich mitten in der Gedenkveranstaltung ein Mann mit Hut und schwarzem Regenmantel schneidende Kommandos brüllte: „Los, schneller!“ Solcher Art hatten die Jugendlichen die Gestapo kenntlich gemacht, andere stellten die Juden dar, die per Aufkleber markiert waren. Hannah Nowack leitete in das Geschehen ein und hatte die Konzeption erläutert. Wie rasch Entrechtung, brutale Bevormundung und Enteignung zur Entwürdigung von Menschen führt wurde den Zuschauern schmerlich bewusst. Von Station zu Station der „Abschiebung“ mussten die anfangs noch mit Mänteln und Koffern ausgestatteten Menschen immer mehr zurücklassen. Diese Stationen, also die Bahnstationen von Lauterbach bis Breslau, wurden mit Haltepunkten eines kleinen Rundwegs und mit Schildern markiert. Das letzte Schild aber war leer und symbolisierte damit das „Verschwinden“ der Personen in den Arbeits- und Vernichtungslagern im Osten. Es war eine ambitionierte und durchdachte, durchaus etwas gewagte, aber gelungene Inszenierung von der unmenschlichen Entwürdigung der Juden, die von den Zuschauern wohl verstanden wurde.

Im Anschluss an dieses beeindruckende Gedenken hatte der Kulturverein in Kooperation mit der OVAG in der Reihe „Der Vulkan läßt lesen“ noch zu einer Lesung des Frankfurter Historikers, Journalisten und Schriftstellers Johannes Winter geladen. Anne Naumann für die OVAG und Martin Krauss für den Kulturverein konnten dazu rund 50 Zuhörer im Saal des Hotels Johannesgerg begrüßen. Winter las aus seiner Neuerscheinung „Die verlorene Liebe der Ilse Stein“, erschienen beim Verlag Brandes & Apsel.



Winter bezeichnete sein Buch selbst als „dokumentarische Erzählung“. Es erzählt die Geschichte der Jüdin Ilse Stein, die mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf in der Wetterau lebte. Als Kind erlebte sie bereits die Schickanen gegen Juden und die damals so genannte „Reichskristallnacht“, in der das Geschäft ihrer Eltern zerstört und geplündert wurde. Fassungslos beobachtete das Mädchen, wie sich „Nachbarinnen“ Waren aus dem Laden in die Taschen ihrer Kittelschürzen stopften und andere den Laden demolierten. (Ein entsprechender Prozeß nach Kriegsende führte zu einem aus heutiger Sicht unglaublichen Freispruch.) Das Kapitel über den 10. November 38, das Winter vortrug, enthält zudem auch die bedrückende Vorgeschichte, in der die allgegenwärtigen Schickanen gegen die Juden von diesen schon fast als Normalität empfunden wurden, und das Presseecho auf das Pogrom, in dem vom „gerechten Volkszorn“ die Rede war. Ihr Vater kam damals für einige Zeit ins KL Buchenwald. In Folge des Pogroms wurde die weitere Drangsalierung der Juden dann „nach Recht und Gesetz“ vollzogen: Entrechtung, Enteignung, schließlich Deportation. Für die Leute im Dorf waren die Juden „weggekommen“, ihr Hab und Gut wurde billig ersteigert. „Was wir alles mitgemacht haben“, sei eine beliebte Redewendung der Bewohner des vom Krieg weitgehend unberührten Dorfes nach 1945 gewesen.
Ilse Stein wurde später mit einem Teil ihrer Familie nach Minsk in das „Sonderghetto“ deportiert, wo man die Juden „verrecken lassen“ wollte. Dort fiel der hübsche Teenager aber einem Hauptmann Schulz auf, der sich heimlich für sie und ihre Familie einsetzte und sie zu seiner Bedienten macht. Dennoch starb ihre Mutter in dem Ghetto. Hauptmann Schulz desertierte schließlich und floh mit Ilse.
Im ausführlichen Frageteil berichtete Winter davon, dass er Ilse Stein mehrfach getroffen hatte. Ihre Berichte sowie Archivakten dienten als Material für sein Buch, das in sehr sachlichem und dabei einfühlsamen Ton geschrieben wurde. Winters Vortrag erlebte eine intensive Resonanz, die auch in Gesprächen am Büchertisch noch ihre Fortsetzung fand.

Text und Bilder: Martin Krauss

nach oben