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Vom Versuch, die Welt auswendig zu lernen
Lesung von Peter Kurzeck in Freiensteinau war großer Erfolg

Der Geschichtsverein Freiensteinau hatte zu einer Lesung mit dem mehrfach preisgekrönten Schriftsteller Peter Kurzeck in der von der OVAG initiierten Reihe „Der Vulkan läßt lesen“ ins Freiensteinauer Bürgerhaus eingeladen - ein Wagnis, hieß es von seiten des Veranstalters, denn „man weiß nie, wer kommt“. Literaturlesungen sind auch sonst keine Massenveranstaltungen und in der ländlichen Region schon gar nicht. Doch das Wagnis hatte sich gelohnt. OVAG-Projektleiter Andreas Matlé und Manfred Dahmer vom Geschichtsverein konnten rund 60 Besucher begrüßen, die sich hernach durch den Vortrag des Schriftstellers sichtlich bereichert zeigten.



Peter Kurzeck, der als dreijähriges Flüchtlingskind nach Stauffenberg im Kreis Gießen kam und dort aufwuchs, bevor er nach Frankfurt zog, las zunächst aus seinem Roman „Kein Frühling“, den er vor mehr als 20 Jahren geschrieben hat. Stauffenberg sei damals ein sehr kleines Dorf gewesen, das nur über einen Schotterweg erreichbar war. Kurzeck wählte für diese Erzählung, die er schrieb, als er bereits in Frankfurt lebte, die Perspektive des Kindes, welches in diesem Dorf groß wird und nach seiner Erinnernung trotz der harten Zeit Ende der 40-er Jahre eine gute Kindheit hatte. Das Thema Kindheit kann durchaus als ein Kardinalthema Kurzecks angesehen werden, und er äußerte ausführlich seine Skepsis bzgl. unserer modernen Welt, in der Kinder in den Kindergarten gebracht werden müssen, damit sie überhaupt andere Kinder treffen, und wo sie von den Alltagsverrichtungen der Erwachsenen ausgeschlossen sind. „Kinder leben unter uns wie ein fremdes Volk“, resümmierte der Erfolgsautor.
Sachlich, aber überaus kritisch refektierte Kurzeck die Veränderung, welche mit dem Dorf Stauffenberg, aber auch mit vielen anderen Dörfern der Region, vor sich gegangen ist. Das Dorf sei heute viel größer und absolut autogerecht, aber wohl weniger menschengerecht, „ohne dass sich auch nur einer darüber wundert“. Episoden aus dem alten Stauffenberg schildert Kurzeck in seinem Buch auf sehr poetische, dabei exakt beschreibende und höchst eindringliche Weise.
Es ist keine Literatur für Freunde geballter Handlungsabläufe. Der Vorgang, dass in der Nachkriegszeit herumreisende Händler versuchen, den Dorfbewohnern Hundwelpen gegen Naturalien zu verkaufen, kann sich über viele Seiten erstrecken und bleibt doch für den Leser oder den Zuhörer der leisen, fast singenden Stimme des Autors sonderbar spannend. Denn Kurzeck nutzt Details der Lebensumstände, der Gebäude, der Landschaft und vor allem im Verhalten und Sprechen der Menschen für ein komplexes Zeit- und Stimmungsbild von erheblicher Tiefe. Die Dinge mit feinsinnigem Humor unvoreingenommen betrachtend und stets hinterfragend kommt er ihrem Wesenskern auf die Spur. Die Frage „Was ist das?“, ist ein immer wiederkehrender Anknüpfungspunkt für ihn, sich zum Beispiel der Bauernschläue der um die Hundewelpen feilschenden Dorfbewohner, aber auch ihrer recht erbärmlichen Situation und harten Lebensumstände zu vergewissern.
Denn diese Vergewisserung, so Kurzeck, sei seine Hauptmoptivation des literarischen Schreibens. Schon als Kind, durch Vertreibung und Verlust geprägt, habe er das Gefühl gehabt, er müsse „die Welt auswendig lernen“, was freilich nur möglich ist, indem man auf die Charakteristika reduziert. In diesem Schaffen ist aus Peter Kurzeck ein höchst eigenwilliger Literat, ein subjektiver Historiker und ein entschlossener Kritiker der Moderne geworden, ohne dass er sich von dieser verschließen würde.
Denn auch aus seiner Frankfurter Zeit las Kurzeck noch einen Ausschnitt des Buches „Oktober und wer wir sind“, in dem es um das Verhältnis zu seiner vierjährigen Tochter und die Einrichtung eines „Kinderladens“ in Bockenheim geht. Dadurch wurde deutlich, dass vor dem gekonnten Erzählen zunächst das gekonnte Zuhören stehen muss, das es möglich macht, eine Kinderwelt authentisch zu beschreiben.
Das Publikum folgte hoch konzentriert und gespannt der Lesung dieser Texte von erstaunlicher Sogwirkung.