Trostlosigkeit mit Variationen

über Hess Paul: "Ohne Amok" (Erzählungen) von Martin Krauss

Wahrscheinlich wird Hess Paul mit seinen Erzählungen über das trostlose Leben von Psychopathen in seinem jüngsten Buch "Ohne Amok" das Schicksal aller Erzähler in Ichform erleiden, dass er von vielen Lesern mit der Person seiner Storys gleichgesetzt wird, was man nicht tun soll, wir wissen das. Diesmal wäre der Autor aber zum Teil selbst schuld. Wer in Folge sieben Geschichten über nahezu identische Typen in nicht gerade grundsätzlich verschiedenen Lebenslagen im gleichen Tonfall erzählt, der provoziert nicht nur Übersättigung, sondern auch die Frage, ob Hess Paul uns so wenig zu sagen hat.

Eingeweihte wissen freilich, dass dem nicht so ist. Er ist in der Gießener Literaturszene eine nicht unbedeutende Figur: war an der Gründung der Zeitschrift "Shanghai Opera" beteiligt, organisierte Lesungen und spielt seine Rolle in der "Lahn-Beat-Bewegung" und bei der neuen Literaturzeitschrift "Syntax acut". Hess Paul versteht sich durchaus auch auf andere Inhalte und Ausdrucksformen. Bei der Zusammenstellung von "Ohne Amok" wäre er jedoch besser beraten gewesen, aus den sieben Geschichten drei auszuwählen und andere hinzuzusetzen.

So erübrigt es sich, die Texte einzeln vorzustellen. Sie liefern zwar jeweils Variationen zum Thema (es gibt z.B. einen Besuch bei einem Schäfer und zuletzt gar eine Liebesgeschichte), jedoch nicht zur Charakterisierung der Erzähler-Person.

Hess Paul will adäquate Darstellung seelischer Abgründe: Einsamkeit, Verzweiflung, Perspektivlosigkeit, Lethargie, Naturentfremdung und Menschenscheu sowie sich daraus entwickelnden Zynismus und Oberflächlichkeit. "Es geht um Menschen, deren Probleme mit sich respektive der Umwelt zu groß sind, um noch alltagstauglich zu sein", fasst Hess Paul auf Anfrage zusammen. Weitgehend gelingt dies. Hess Paul zeigt einen Typus auf, der zwar oft ziemlich genau beobachtet, dabei aber nur erfährt und bestätigt, was er ohnehin schon weiß und empfindet. ("Ich brauche nicht spazierengehen und eigentlich auch nicht weiterfahren. Ich werde nichts Neues zu Gesicht bekommen, selbst [...] Ausnahmen da und dort: sind nur Ausnahmen.") Pauschal-pessimistische Weltsicht und vordergründige Gesellschaftskritik ("Das ist ja heutzutage [!] das Traurige, daß mensch sich kaum noch zu Schauen getraut, wenn Vater Staat zurückschaut...") werden zur Legitimation von Nabelschau und seelischer Verwahrlosung. Dahinter steckt außerdem die kaschierte Botschaft an die Umwelt Was bin ich doch für ein interessanter, unangepasster Typ!

Zur Trostlosigkeit tritt beklemmende Ausweglosigkeit. Denn die Figuren unternehmen keinen Versuch der Befreiung, ja sie gestehen sich nicht einmal das Bedürfnis ein. Die Folgen sind selbstgenügsame Phantastereien mit Tendenz zur Gewalttätigkeit (wenn es auch noch so eben "ohne Amok" abgeht), Selbstzerfleischung, sozialer Gleichgültigkeit und Apathie.

Aber über die Wurzeln und die Substanz dieser Probleme erfahren wir nichts, geschweige denn auch nur Ansätze zu deren Lösung. Letzteres sei dem Autor geschenkt, es ist nicht seine Aufgabe, Heilsbotschaften zu verbreiten oder Therapiefomen vorzuschlagen. Wenn aber auch Ersteres entfällt, bleibt nur Symptombeschreibung übrig. Das muss uns bei "Ohne Amok" genügen.

Diese immerhin gelingt eigenwillig und eindrucksvoll durch eine konzentriert introvertierte Gedankenprosa, bei der die Umgebung tasächlich zu verschwimmen scheint: selektive, von der Schwärze der Empfindungen gefärbte Wahrnehmung und manische Visonen. Wir lesen unsortierte Gedanken von einem, der in düsteren Zimmern abhängt, wohl auch einmal nachts durch die Stadt schleicht, nicht unintelligent, dabei aber verhängnisvoll beschränkt. Erstaunliche Authentizität erreicht Hess Paul durch eine Sprache, welche absichtsvoll ungenau ist, sowie durch sprunghafte Syntax auf hohem Niveau (für diejenigen, welche das Niveau nicht am Duden messen). Er hat Freude an unverbrauchten Formulierungen, er entwirft Phrasen, die später wieder aufgegriffen werden und dadurch scheinbare Bestätigung erfahren. Er kreiert einen Tonfall, der zunehmend Dichte und erscheckende Dynamik gewinnt.

Nachteil dieser Technik ist, dass die Originalität und Spontaneität oftmals flach und gesucht wirkt ("Die Sonne scheint als Wintersonne.") und dass ganze Abschnitte reichlich inhaltsleer bleiben. Die Hauptpersonen vollziehen keinerlei Entwicklung, sondern drehen sich in einem stationären Zustand wahnhaft rauschhaft um sich selbst. Das mag wohl der Prädisposition Hess Pauls ich-erzählenden Protagonisten angemesssen sein: treffende Beschreibung eines Zustands, die intentionale Notwendigkeit hat. Aber was davon erreicht in dieser Auschließlichkeit den Leser?

Nihilismus auf ganzer Front. Hess Paul variiert die Trostlosigkeit als Sachverhalt, statt zu ihrer Klärung oder zur Verteidigung ihrer Opfer das Mindeste beizutragen. In gewisser Weise beutet er sie für seine eigenwillige, nicht uninteressante, virtuos düstere Ästhetik aus. Es ist ein verantwortungsloses und gefährliches Spiel, weil es die Fälle als grund- und hoffnungslos abstempelt und weil es den Schicksalen einen extrem fragwürdigen, tückischen Reiz entlockt.

Hess Paul: "Ohne Amok" (Erzählungen), Bench Press Publishing, Grabenstetten 2001, ISBN 3-933649-17-X, 81 Seiten, 10,- €