Wurzeln von unten sehen ohne zu sterben

Über Andreas Altmann: "Augen der Worte – Gedichte aus zehn Jahren"

von Martin Krauss

Wer liest schon gerne in wuchtigen "Gesammelten Werken"? Sind die schmaleren, handlicheren Originalausgaben eines Dichters nicht viel reizvoller? Doch hier sprechen wir nun von einer Ausnahme, einer mit 92 Seiten auch längst nicht wuchtigen neuen Zusammenstellung von Gedichten aus drei Lyrikbänden eines Autors.

Nach längerer Veröffentlichungspause hat der in Berlin lebende Andreas Altmann nun in der Lyrik-Taschenbuch-Reihe des Rimbaud Verlages eine passende Möglichkeit gefunden, ein Konzentrat seines bisherigen Schaffens vorzustellen. In den Jahren 1996, 1997 und 2001 legte Altmann je einen Gedichtband vor, an die man sich nun bei "augen der worte" erinnert fühlt wie an alte Freunde. Es ist indessen nicht nur Sammelband (ein einziges Gedicht, "augen worte", das dem Buch voransteht, ist bisher unveröffentlicht); die Komposition des neuen Buches ist so schlüssig, dass auch bekannte Texte in neuem Licht erscheinen und dabei ihre Dynamik verändern.

Man muß bei der Beschreibung des Buches mit dem Schluß beginnen, den ein äußerst verständiges Nachwort von Joachim Sartorius bildet. Trefflich beschreibt dieser den dichterischen Ansatz Altmanns und weist zurecht auf sein scheinbar eng gestecktes Repertoire poetologischer Haupt-Wörter hin.

Dieser Wort- oder Begriffs-Pool, der ohne Exotica und extravagante Neologismen auskommt, beinhaltet jedoch, ähnlich den Tasten einer Klaviatur, das Potential zu immer neuartigen Schöpfungen. Viele in vergleichbarer Art anlautende Texte, die über die drei Gedichtbände "die dörfer am ufer das meer", "wortebilden" und "die verlegung des zimmers" lose verteilt waren, wie etwa solche über "augen", oder die "eine geschichte von..." heißen, fügen sich hier endlich zu den zehn Zyklen des neuen Gedichtbandes, welche mit "die augen", "die stimmen", "die wege" und anderes mehr überschrieben sind. Diese scheinbare, thematische Enge resultiert einzig daher, dass Altmanns Gedichte sehr persönliche, manchmal fast intime Kunstwerke sind.

Wenn das nun nach Seelenanalyse klingt, ist ein falscher Eindruck entstanden. Denn Altmann ist ein viel zu bewußt Schaffender, dass er sich mit dem Ausbreiten seines Gefühlslebens zufrieden geben würde. Ohne dies geht es freilich auch nicht, denn sonst könnte die gedankliche Weite der Lyrik von ihm nicht bewältigt und von uns nicht aufgenommen werden. Worum geht es also noch?

Es geht um die Auflösung von Zusammenhängen, eine Neukomposition der Natur durch den Schauenden (Altmanns Nähe zur Malerei und Zeichnung, die sich in der mehrfachen Zusammenarbeit mit dem Graphiker Günter Hofmann vermittelt), um Distanzfindung zur Umwelt und zur Zivilisation, Bewältigung der Macht der Zeit und um den Versuch zur Selbstbestimmung — Inhalte, die nicht behauptet werden, sondern sich durch subtile Wortkombination erschließen lassen und die dann den Leser packen, weil das doch ganz substantielle Motive sind.

"... die augen schlossen sich auf ihrem grund. / jetzt haben sie mühe im licht / und die schatten der bäume geduld. / es gibt viel zu sehen. für immer / weniger haben die augen worte." Was Altmann hier im Titelgedicht "augen worte" anführt, ist nicht etwa die Realitätskrise eines Lyrikers, sondern im Gegenteil die Beschwörung einer kraftvollen Poetologie, die nicht nur nach Innen schaut, sondern durchaus mit den Sinnen in die Welt, darin jedoch nur mit neuer, persönlicher Sprache Bedeutsames zu fassen vermag. Altmann liefert daher in seinen Gedichten, selbst wo sie Natur oder Mensch als Ausgangspunkt oder gar direkte geographische Bezüge haben, keine eigentlichen Beschreibungen, sondern gleichsam Exzerpte aus der Wirklichkeit in neuen Verbindungen. Die Stärke dieser Lyrik liegt nun darin, dass solche Verbindungen nie gesucht, nicht konstruiert, nicht phantastisch und eigentlich auch gar nichts Besonderes sind. So ist zum Beispiel von "namen" die Rede, "die an den türen geblieben sind" ("weiter ab") oder man sieht "teile der wurzeln von unten ohne zu sterben" ("insel kopf" – eines der eindringlichsten Gedichte).

Ergebnisse für den Leser sind bestechend scharf formulierte Texte, die mühelos mit eigenen Bildern zu verknüpfen sind, die zugleich verunsichern wie bestärken und zu subtilerer Wahrnehmung herausfordern.

Andreas Altmann: "Augen der Worte – Gedichte aus zehn Jahren", mit einem Nachwort von Joachim Sartorius, Lyrik Taschenbuch Nr. 42 im Rimbaud Verlag, Aachen 2004, 92 S., ISBN 3-89086-654-9, 13,- Euro.