»Was ich verloren habe, findet mich«

Über das neue Buch von Walle Sayer "Von der Beschaffenheit des Staunens"

von Martin Krauss

Der Schwäbische Lyriker Walle Sayer, Träger u.a. des Förderpreises des Hölderlinpreises der Stadt Bad Homburg, des Berthold-Auerbach-Preises und des Förderpreises der Hermann-Lenz-Stiftung, hat einen Sammelband mit größtenteils neuen und wenigen aus früheren Publikationen übernommenen oder überarbeiteten Texten vorgelegt. "Von der Beschaffenheit des Staunens" besteht aus vier Abschnitten. Zwei Mal im Untertitel "Miniaturen" genannte Kurzprosa ("Von der Beschaffenheit des Staunens" und "Guckloch"), sogenannte "Notate" ("Zettelwirtschaft") und zuletzt 48 titellose Gedichte ("Panoptikum").

Sayers Eigenheit war seit je eine wache, auf das Unscheinbare gerichtete Beobachtung. Ihn faszinieren die Zeitspuren auf Gegenständen, in der Landschaft, an Menschen, die Geschichten der kleinen Dinge. So staunt er im ersten Kapitel "Von der Beschaffenheit..." zum Beispiel über ein Büschel Strohhalme, das mal ein Teil des Hausdaches war, mal an einem Kruzifix steckte und in arg schlechten Zeiten zur Fütterung des Viehs vorgesehen war (Fadenlänge). Ländliche Bilder sind dies zumeist, der Erfahrungswelt seiner Heimat entlehnt, und damit eben auch besonders ursprüngliche. Dazu gesellen sich bruchlos Reflektionen über die eigene Geschichte, an Fotos oder Gegenständen haftende Erinnerungen, z.B. an eine bedeutsame Nacht, enthalten in einem Schluck Finsternis aus einem Cola-Glas (Sofortbild).

Die jeweils wenige Zeilen umfassenden namenlosen Texte aus dem Kapitel "Guckloch" fokussieren auf einzelne Phänomene, besonders auch auf sprachliche: "Wir sind wir: eine einfache Gleichung mit zwei Unbekannten". Sayer spürt solche vielsagenden Details mit großer Sensibilität auf oder schafft sie auch selbst durch seine von entspannt kreativer Ernsthaftigkeit geprägten Formulierungen. ("Das Ja als der kürzeste Zungenbrecher.")

Das Kapitel "Zettelwirtschaft" enthält eine große Zahl von Aphorismen (die Sayer bescheiden "Notate" nennt), jedenfalls, wenn man die etablierte Definition dieses Genres wörtlich nimmt: "pointierte und schlagkräftig formulierte geistreiche Äußerung in Prosa; Gedankensplitter, der Bekanntes auf durchsichtige Formel bringt..." (Otto F. Best, Handbuch literarischer Fachbegriffe, Frankfurt/Main 1987). Da finden sich brillante Wortspiele ("Mein Fremderhaltungstrieb.") wie kleinste, hintersinnige Bilder ("Die Hunde, die man tragen muß zum Jagen, / springen bellend an mir hoch und folgen / auf das Wort, das mir nicht einfällt." sowie Betrachtungen von kaum überbietbarer Zartheit ("Wie schön du zu leicht angezogen warst, / dagestanden bist mit blauen Lippen / als hätt die Kälte dich geküßt.")

Der Gedichtzyklus "Panoptikum" beschwört eine höchst persönliche, empfindungsreiche Welt hervor, die vom zauberhaften Bild (der Traum im alten Ohrensessel) über Bitterkeit und Trauer bis hin zur melancholisch-süssen Jugenderinnerung reicht und ergreifende, dabei durchaus nüchterne und durchdachte Substanz vermittelt.

Walle Sayers Poesie, die sich nur ganz selten zur Spielerei oder zur Verklärung versteigt, ist bei all ihrer Wärme ein starkes Medium der Aussage über die Erfahrung der Welt. Die Texte treffen Gefühl wie Verstand und bestechen durch Originalität, Prägnanz, Tiefe und Charakter.

Walle Sayer: "Von der Beschaffenheit des Staunens – Miniaturen, Notate und ein Panoptikum", Hardcover mit Schutzumschlag, Verlag Klöpfer&Meyer in der DVA, Tübingen 2002, ISBN 3-421-05743-5, 150 Seiten, 16,- €.