Was man einsehen soll, hört sich so ausleuchtend an

von Martin Krauss

Walle Sayer aus Dettingen bei Horb am Neckar ist kein Unbekannter mehr. Nach mehreren Veröffentlichungen in Kleinstverlagen brachte ihm der Gedichtband »Zeitverwehung« im Jahr 1994 den »Thaddäus-Troll-Preis« ein, nach den Prosaminiaturen »Kohlrabenweißes« im Tübinger Klöpfer & Meyer Verlag erhielt er 1997 den Förderpreis zum Bad Homburger Hölderlinpreis, der Berthold-Auerbach-Preis und 1999 den Förderpreis der Hermann-Lenz-Stiftung, um nur die Wichtigsten zu nennen. Dazwischen lagen zahlreiche Publikationen in Zeitschriften, wie z.B. der ndl des Aufbau Verlags. Doch Sayer bedient Genres, die bei großen Verlagen kaum repräsentiert sind: Lyrik und künstlerische Kurzprosa. So kann auch von »Bekanntheit« nicht die Rede sein. Zur besonderen Qualität ist dies ein zweiter Anlaß, Sayers neuen Lyrikband »Irrläufer« vorzustellen.

Die Sammlung gliedert sich in sechs Kapitel. Im ersten sind Vergegenwärtigungen, durchaus auch Reminiszenzen und Versenkungen in die Kindheit versammelt. Beobachtungen an Erwachsenen, abgelegene Pfade und geheime Plätze einer phantasievollen und unsegmentierten Zeit.

Das zweite Kapitel »Hörtest« deutet Geräusche und deren Umfeld aus: die Schritte des Zuspätkommenden in der Kirche, der zu Boden fallende Bleistift in der Zimmerei, der Teppichklopfer im Garten etc. Erstaunlich, was Beschreibung von Klängen an Assoziationen hervorruft.

Das dritte und sechste Kapitel sind poetische Reflexionen von »sprechenden« Gegenständen, von Splittern der Geschichte (wobei Geschichte als Besinnung auf aufgegebene, abseitige, aber vielleicht doch nicht ganz zu verwerfende Wege zu begreifen ist — und als Wechselwirkung zwischen persönlicher- und Kulturgeschichte), über die Liebe, Freundschaften, Land und Leute, wobei »das Schwäbische der Herkunft«, auf das der Klappentext verweist, sich zwar durch die Merkmale der Provinz und sprachlichen Niederschlag von Heimatgefühl ausprägt, jedoch nicht so bestimmend wirkt, daß es nicht problemlos übertragbar wäre). Gestaltet werden Momente, die, wie Sayer einmal schrieb: »Realitätsverlust, was das alltägliche Leben angeht und einen Wahrnehmungsgewinn bringt, das Außerhalb-, am Rande stehen, das Fremdsein...« zum Ausgangspunkt haben — also eine meditative Sicht.

Unterbrochen werden beide Kapitel von zwei weiteren Zyklen: einem, der sich mit dem Phänomen Fußball auf sehr hintergründige Weise beschäftigt: kickende Kinder, Alt-Stars in der Provinz, Besäufnis im Vereinsheim..., einem zweiten, der als »Briefschatulle« (datiert mit Ort und Zeit) durch wenige, marginale Mitteilungen den Geschmack jeweils eines Lebens, ein Personen- und Zeitbild wachruft.

Walle Sayers Gedichte sind von unverwechselbarem Tonfall. Sie sind nachdenklich, oft wehmütig, kritisch und selbstkritisch, frech, gefühlvoll bis zur Intimität, dabei offen zu vielfältiger Interpretation, knapp, dicht und präzise, zudem getragen von innerlicher Musikalität. Häufig erkunden sie die Sprache, indem Worte und Wendungen auf Klang, Nebenbedeutungen usw. befragt werden, ohne die Sprache selbst zu sezieren. Eher ist Sayers Vorgehensweise dem Mikroskopieren vergleichbar (wobei aus Mikrokosmen ein neuer Makrokosmos entsteht). Dabei wahrt Sayer Authentizität, etwa wenn der Metzger in »Fixativ« (S. 14) »Stücker runtersäbelt und sie / schiebt in seinen Mund...«. Das Spielerische mit der Sprache, gleichsam das Verdrehen von Wendungen, wird in »Irrläufer« nicht so exzessiv betrieben wie in »Zeitverwehung«, gehört aber noch immer zu Sayers Mikroskopier-Linsen.

Versenkt? Abgehoben? Der Effekt dieser Lyrik ist beeindruckend real. Obgleich die Gedichte Tiefe haben, stellt sich nie die Frage, »was uns der Dichter wohl damit sagen will?« — Sayers Sprache ist unverschlüsselt, klar; doch denkt der Leser nach (und weiter): über das, was gesagt wurde. Ein substanzieller Gewinn ohne Belehrung; denn »was man einsehen soll, hört sich so ausleuchtend an« (»Irrläufer«, S.107).

Walle Sayer: »Irrläufer« (Gedichte), 112 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2000, ISBN 3-931402-56-8, 28,- DM.