Liebe, von der man nicht träumen mag

Über Richard Pietraß: "Vorhimmel - Liebesgedichte"

von Martin Krauss

Ein Liebesgedicht, was kann das alles sein? Richard Pietraß' neuer Gedichtband "Vorhimmel" nennt sich selbst im Untertitel "Liebesgedichte", auf der Rückseite des schön gestalteten Buches lesen wir gar "Gedichte, der Geliebten auf den Leib geschrieben". Das klingt vielversprechend und soll es auch. Was dann auf den 91 Seiten zutage kommt, ist in der Tat überaus vielfältig und bietet reichere Facetten, als man normalerweise mit "Liebesgedichte" assoziiert.

Sowohl inhaltlich als auch im Tonfall fächert Pietraß ein gewaltiges und gewagtes Kaleidoskop aus Darstellungen der Liebe auf: neue und alte, glückliche und verzweifelte, lustvolle und träge, harmonische und konfliktgeladene. Dabei bleibt er sich im Stil im Wesentlichen treu, so wie wir ihn von "Schattenwirtschaft" (Leipzig, 2002) und vor allem der umfassenden Ausgabe "Hundert Gedichte" (Ebenhausen, 2001) her schätzen. Scharf durchdachte Verse mit nicht selten liedhaftem Duktus (z.B. im "Requiem für Lilja"), rhythmisch schlüssig allemal, mit einer reichen Metaphorik, die vielleicht aufgrund des geistig-sinnlichen Themas allerdings hin und wieder überreich wirkt. (Die Geliebte als aufgebackenes Brötchen in "Toast" – muss das sein?)

Warum eigentlich "Vorhimmel"? "Du brichst mit mir. Ich spucke Engelblut" heißt es im titelgebenden Gedicht. Ja, die Liebe kann bei Pietraß etwas beinahe Himmlisches sein, die jedoch dadurch das Irdische nur umso gnadenloser vor Augen führt. So geht es beileibe nicht nur um glückliche, sondern auch um quälende oder gescheiterte Beziehungen ("Uns fraß der Dreck. Der Sumpf der Zwecke" – aus "Fremd"). Sprachlich gestaltet Pietraß die Gefühls- und Lustwelten, in denen es ab und an recht derb zur Sache geht, mit Originalität und Verspieltheit. Wenn er wie in "Liebesmüh" ein Feuerwerk aus Binnenreimen und Wortverdrehungen abbrennt, beschwört er zwar Lust, doch blitzt der mögliche oder gar wahrscheinliche Frust immer schon durch. Schmerz ist allgegenwärtig.

So haben die meisten von Pietraß' Liebesgedichten etwas Nervöses, eher Ver- als Entspanntes, sie sind Kraftakte, vom Inhalt her und im Sprachstil: jeder Text mit höchstem Energieaufwand und unter Zuhilfenahme zahlreicher Mittel. – Beim Lesen wird das leicht bedrändend, mit dem Effekt, dass die Miniaturen, Vier- bis Sechszeiler, oft die tieferen Eindrücke hinterlassen.

"Dann gingst du in die letzte Gestalt". Ein ganzer, vom Tod dominierter, bereits 1994 erstveröffentlichter Zyklus, inmitten von Liebesgedichten. Da ist Pietraß im Ton ruhiger, auf den Punkt konzertrierter. Hier lässt sich der Ernst, der auch den anderen Texten innewohnt, wohl nicht überspielen. Diese Verse treffen.

"Vorhimmel" bietet also keine Liebesgedichte, bei denen man sich zurücklegen und träumen mag, selbst dann nicht, wenn sie von Erfüllung und Begeisterung getragen sind. Spiegeln sich hier Zeitphänomene der Stress- und Leistungsgesellschaft, des permanenten Zeitdrucks, Erfolgsdrucks, zwanghafte Lustbarkeit? Man kann lachen, mitleiden, Lust mitempfinden, aber auch ins Grübeln geraten bei den gekonnt inszenierten lyrischen Liebeswehen des sächsischen Dichters. Und das ist freilich nicht das schlechteste, was ein Gedichtband auslösen kann.

Vier Tintenstiftzeichnungen von Nuria Quevedo stehen den Gedichten voran, die einen ebenfalls unruhigen und gereitzen Einstieg in das Thema der Liebe schaffen, ein Augenschmaus sollen sie nicht sein. Ludwig Harig lieferte ein Nachwort.

Richard Pietraß: "Vorhimmel - Liebesgedichte" Gollenstein VerlagBlieskastel 2003, ISBN 3-935731-52-3, 91S., 8267-5191-4, 166 S., 17,50 €.