Phantasievolle Outsider kommen zu Wort

von Martin Krauss

"Consilium abeundi" erzählt von derben Ausschweifungen einer Gruppe Klosterschüler. "Größerer Dachschaden" ist die heitere Schilderung der Schwierigkeiten und Lerneffekte eines Akademikers beim Renovieren eines alten Hauses. Dies sind die erste und die letzte Geschichte des neuen Erzählbandes "Größerer Dachschaden und andere Beschädigungen" des in Geislingen lebenden, 1954 geborenen Volker Jehle - und die schwächsten des Bandes. Die Anordnung der sechs Texte in dem 158 Seiten starken Buch erscheint daher fragwürdig, dessen Titel verfehlt.

Dabei sind beide genannten Erzählungen wahrhaft nicht schlecht; von beachtlichem Sprachwitz und situationsbezogener Einfühlsamkeit. Zu wünschen übrig läßt lediglich ihr Gehalt.

Doch was der Leser zwischen der ersten und der sechsten Geschichte findet, läßt den Klappentext des Verlages, der von "funkensprühenden erzählerischen Kabinettstücken" kündet, als tiefgestapelt erscheinen.

"Mißverständnisse oder Winkelmanns Tod" ist eine bedrückende, in verblüffender Technik erzählte Schilderung aus einem Homosexuellenmilieu abseits aller Klischees, die gerade an diesen Klischees gebrochen wird. Auf den ersten Blick ungeordnete, sogar im Satz deutlich voneinander abgehobene Stimmen fügen sich zu einem filigranen Mosaik, bei dem es keine Füllteile, sondern nur bedeutungstragende Splitter gibt.

"Tomek, Mensch" (das wäre vielleicht der richtige Buchtitel gewesen) schildert in konsequentem, variantenreichen Perspektivenspiel die Lebens- und Glücksversuche eines Polen in Wien. Der ist erfrischend unkonventionell, lustig, selbstbewußt, lieb und böse, frech und respektlos, und wird schließlich ein armes, verzweifeltes, einsames Wesen. Dies geschieht so sicher (von ihm selbst und von seinem Freund) erzählt, daß es fast zwangsläufig erscheint. Dabei ist das Schicksal des unangepaßten Outsiders, der mit unendlicher, menschlicher Wärme vor dem Auge des Lesers gezeichnet wird, nicht der einzige Aspekt. Volker Jehle gelingt eine umfassende, fast eines Romans würdige Aussage ohne Abschweifung vom eigentlichen Gegenstand. Die Geschichte erzählt sich, ein Meisterstück, gewissermaßen selbst, ohne durch Einwürfe vorangetrieben zu werden.

"Susanne": Ein komplexes Psychogramm einer vielfältigen Manie, die nicht analysiert wird, sondern die "nur" durch die "Beichte" einer jungen Frau gegenüber ihrem Bruder transparent wird. Jede beschriebene Körperhaltung ist relevant. Hier ist komprimiert zu finden, was bereits Volker Jehles Roman "Ulrike" ausgezeichnet hat: das Durchschauen einer Krankhaftigkeit, ohne die »Sicht von oben« anzunehmen, die Umsetzung der Erkenntnis, daß das Kranksein nicht nur aus den Schwächen des "Patienten" resultiert. Das tiefe Mitempfinden mit menschlichen Extremlagen, wobei nicht über Betroffene geredet wird, sondern sie selbst zu Wort kommen. Und noch etwas ist zu spüren: Liebe.

"Droescher-Vellinghausen kommt" ist eine im Erzähltempo atemberaubende Kurzkomödie mit Tiefgang, Witz, Charme und leiser Melancholie, ein "Slapstick" (im Untertitel) im besten Sinne, fast eine Chaplinade.

"Größerer Dachschaden und andere Beschädigungen" ist somit ein Buch, das es in sich hat, das bei marginalen Mängeln eine erstaunliche, formale und inhaltliche Bandbreite des Autors offenbart, dabei markant, unterhaltsam und gewinnreich ist. Es kultiviert einen originellen, unerschrockenen Erzählstil, der auf verblüffende Weise Humor mit tiefer Ernsthaftigkeit verbindet, und der von der Authentizität der Personen und ihrer Sprache sowie intimem Verständnis getragen wird.

 

Volker Jehle: "Größerer Dachschaden — und andere Beschädigungen" (Sechs Geschichten), Verlag Klöpfer und Meyer, Tübingen 1997, 158 Seiten, 34,- DM, ISBN 3-931402-24-X.