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Im Folgenden lesen Sie die Presseberichte zu den Veranstaltungen zum Gedenken an die Reichspogromnacht in Lauterbach:

Auch in diesem Jahr hatten sich zahlreiche Lauterbacher Bürgerinnen und Bürger an dem Platz eingefunden, an dem bis zum 10. November 1938 die Lauterbacher Synagoge gestanden hatte. Bürgermeister Rainer-Hans Vollmöller begrüßte die zahlreichen Besucher der Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht, die seit einigen Jahren durch die Stadt Lauterbach in Kooperation mit dem Kulturverein Lauterbach, den Naturfreunden sowie der evangelischen und katholischen Kirchengemeinde ausgerichtet wird. Dabei nutzte er die Gelegenheit, gleich zu Beginn an Tilo Pfeifer, den im September verstorbenen Urheber der Veranstaltung zu erinnern. Vollmöller würdigte Pfeifers Engagement in der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte. “Sein Gedenken bedeutete gelebte Solidarität”, so brachte er die Intention Tilo Pfeifers auf den Punkt. Pfeifer habe dabei stets versucht, die Ritualisierung des Gedenkens zu vermeiden, indem er immer neue Formen und Perspektiven für die Erinnerung suchte. So wäre die diesjährige Veranstaltung sicher ganz in seinem Sinne, schloss Vollmöller mit dem Hinweis auf die Jugendlichen des Kinder- und Jugendparlaments sowie der Klassen 9 und 10 der Schule an der Wascherde, die zusammen mit ihrem Lehrer Norbert Roth und Andreas Goldberg von der Stadtt Lauterbach die Gestaltung der Gedenkveranstaltung übernommen hatten. Als “erlebbares” Zeichen hatten die Jugendlichen einen Eisenbahngüterwagon angedeutet, in den sich die Besucher während der Veranstaltung begeben konnten. Ein Wagon als Deportationsdenkmal steht auch in der Gedächtnisstätte Yad Vashem. In der Enge des angedeuteten Wagons rezitierten die Jugendlchen Texte aus dem Buch “Die große Reise” des spanischen Schriftstellers Jorge Semprun, in dem dieser seine Deportation von Frankreich nach Buchenwald beschreibt. Wladimir Pletner, Lehrer an der Lauterbacher Musikschule, umrahmte die Veranstaltung mit drei Solostücken auf der Violine, ein würdiger Rahmen für die Stille des Gedenkens. Beim Verlassen des “Wagons” lasen Besucher der Gedenkfeier die Namen der 54 Lauterbacher Juden vor, die den Holocaust nicht überlebt haben. Mit diesen Namen aus unserer Mitte wurde der Schrecken des Nationalsozialismus auch aus der historischen Distanz nachfühlbar, ein Stück gelebter Solidarität im Sinne Tilo Pfeifers.

Klaus Scheuer

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(Bilder: Krauss )

 

Über die Lesung von Martin Menner um 20 Uhr im Posthotel Johannesberg schreibt Gerhard Otterbein:

„Solange die NPD Fackelzüge in Philippsthal zum Gedenken der Reichspogromnacht veranstaltet, so lange sehen wir uns mit unserem regelmäßigen Kulturangebot am Gedenktag als Gegengewicht”, verkündete Martin Krauss vom Vorstand des Lauterbacher Kulturvereins dem Publikum im „Posthotel Johannesberg”, das der Lesung „Als Großvater auf Skiern nach Finnland kam” mit dem Schauspieler Martin Menner in Lauterbach beiwohnte. Menner las aus dem Buch des finnischen Schriftstellers jüdischer Abstammung, Daniel Katz, und ließ durch seine lebendige Art ein konkretes Bild einer jüdischen Familie entstehen. Großvater Benno und Großmutter Wera versuchen mit ihren Kindern und Enkelkindern — trotz Holocaust in Europa, Flucht und näher rückender Nazi-Mörderbande — ein normales Familienleben zu führen. Ein Hauch skandinavischer Familienidylle á la Astrid Lindgrens ist auch im Buch von Daniel Katz zu finden. Die Protagonisten der beiden Schriftsteller, bei Lindgren Pippi Langstrumpf und bei Katz Großvater Benno, tragen beide den spitzbübischen Rebellen in sich und reagieren auf Zwänge mit ihrer ganz eigenen Art. In „Als Großvater auf Skiern nach Finnland kam” steckt viel Lebensweisheit und eine große Portion jüdischen Humors. Vielleicht war es gerade dieser, der diesem Volk im Holocaust den Willen zum Über-leben gab. Witze von Juden über Juden füllen Bände. Mit einigen davon stimmte Martin Menner zu Beginn das Publikum auf die Geschichte ein.
„Was sind Juden – und was Nazis?”, fragte sich Martin Menner, als er im Kindesalter mit seiner Mutter vor Weih-nachten ein Paket zur Post brachte, welches an eine Familie Rothschild in der DDR adressiert war, die im Zweiten Weltkrieg nur ihr nacktes Leben behalten hatte. So schilderte der Schauspieler seine ersten persönlichen Eindrücke zum Thema Holocaust. Die Lesungsanfrage mit Schwerpunkt Judentum, die Johanna Rau vom Förderverein Landsynagoge Heubach an ihn gerichtet hatte, führte den Literaturliebhaber auf die Fährte des Schriftstellers Katz. „Nichts ist so wie dieses Buch”, schwärmte der Vortrags­künstler, der in gewohnt lebendiger Manier las. Dank seiner Vortragsweise wurde die Familiengeschichte, die 1904 beginnt und in den 70er Jahren endet, lebendig. Die Besonderheit, Jude zu sein, und die damit verbundenen Lebensart, brachte der Nichtjude Menner dem Publikum näher. Der dabei zu Tage kommende Humor verleitet zeitweise, den ernsten Hintergrund zu vergessen. Die Seiten sind gespickt mit Ironie und intelligentem, raffiniertem Witz: eben jüdisch. Ausgangsposition der Geschichte: Benno, ein viel zu kleiner russischer Soldat jüdischer Abstammung mit einem viel zu langen Säbel, verliebt sich in Wera, eine Finnin aus Helsinki, die er heiratet. Den Ersten Welt-krieg überstehen sie unbeschadet, dann suchen Benno und seine Familie ihr Heil in der Flucht. Der Nazi-Terror in Europa drängt sie weiter in den Norden Finnlands, in ein Dorf in der Nähe von Vaasa. In der Katastrophe endete nur die Beschneidung während eines Bombenangriffs, mit der nicht alle Beteiligten einverstanden waren. Die Bombe erschütterte den Luftschutzkeller und der Schnitt ging in Bennos Finger. Des Enkels kleiner Freund blieb vorerst unversehrt. Das Buch und die Lesung endeten in turbulenter, grotesker Manier, wie sie begonnen hatten. Katz beschreibt seinen Besuch bei einsetzender Dunkelheit auf dem Friedhof. Am fal­schen Grab mit einer Flasche Wodka wird er vom Friedhofswärter verfolgt und einem Polizisten zur Seite gestellt. Fazit: Wer den Nazis entkamen, der kann problemlos skandinavische Polizisten oder Friedhofswärter an der Nase herum führen.

(Bild: Krauss)

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